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Von anderem Wissen – zum seismographischen Potenzial zwischen Naturerleben und Gemeinschaft

Autor*in
Kirsten Winderlich
Datum

Künstlerische Arbeit

Caminar el tiempo (2024) von Spore Initiative / Mariana Alcántara (Ill.)*

»Los halos lunares -u peet uj en lengua maya- se asocian con anuncios de lluvia. Sus tamañ predicen la intensidad de las precipitaciones: los de mayor diámetro indicant Lluvia torrenciales y ventosas. Si sus tonalidades son azules, las lluvias serán gentiles. En cambio, si los tonos del halo son naranjas, amarillos o rojos, se interpretan como prolongación de las sequías.«
Caminar el tiempo 2024

Vor mir liegt ein malerisches Buch, das sich, nach allen vier Seiten aufgeklappt, als ein prächtiger, saftgrüner Baum entpuppt, in dem eine farbenfrohe Vogelwelt den nahenden Regen besingt. Ich öffne eine Schatzkiste, die, gefüllt mit dem einzigartigen tradierten Wissen der Maya, Einblicke in eine seismographisch motivierte Beobachtungweise von Klima und Wetter gibt. In der Sprache der Mayas heißt diese Gabe, seine Umwelt auf spezifische Signale hin wahrzunehmen, zu interpretieren und entsprechende Maßnahmen für die Pflege ihrer Samen und Pflanzen zu treffen, »xook k’iin«. Es handelt sich dabei um eine tief verwurzelte Tradition, mit der Vielfalt der Umgebungen und Arten in Beziehung zu treten. »xook k’iin« beruht also auf einem erfahrungsbasierten und spirituellen Umgang mit der Natur, dessen Erkenntnisgewinn von Generation zu Generation weitergegeben wird. Vor mir warten 24 Karten mit mehrschichtigen Malereien, Ausschnitte und Details der wahrgenommenen Umgebung fokussierend, wie assoziativ-sinnlichen Textfragmenten darauf, ausgebreitet, betrachtet, gelesen, miteinander kombiniert und ›weitererzählt‹ zu werden. Dabei vermitteln die Karten die Zeichen der Natur als Schlüssel für ein Zusammenleben im Einklang mit dieser in poetischem Ausdruck zwischen Bild und Sprache. Seien es die Mondphasen, an denen günstige Zeitpunkte orientiert werden, um etwas zu pflanzen, oder sei es die genaue Beobachtung der Bewegung der Ameisen. Gruppieren sich diese nämlich um ihr Nest, kündigt dieses Phänomen einen besonders starken und heftigen Regen an. Oder sei es der Gesang der Zikaden im Frühling, der auf regenlose und sonnige Tage beim Maisanbau verweist.

Die Impulse am Ende des Buches greifen diese Fähigkeit, sich derart wahrnehmend mit der Natur auseinander zu setzen, noch einmal auf und teilen dabei auf spielerische Weise indigenes Wissen. Wir werden aufgefordert, die Bilder und poetischen Einlassungen in Beziehung zueinander zu setzen und uns in einer Gruppe über die Entdeckungen auszutauschen. In diesem Sinne können die Impulse auch als Möglichkeit eines ›Durchlebens‹ der Haltung der Mayas verstanden werden: sich in Beziehung zur Natur zu setzen, sich dabei nicht nur in ihrer Wertschätzung zu üben, sondern entsprechend dieser auch zu handeln. So werden wir zum Beispiel eingeladen, uns mit Freunden unter einem Baum zu treffen, die Karten aus dem Buch darunter zu verteilen und jeweils eine zu wählen, mit der wir uns identifizieren können. Wie wäre es, eine Wolke zu sein? Wie wäre es, die Welt aus der Perspektive einer Ameise zu betrachten? Und welche Zusammenhänge können wir zwischen Regen und Kröten, oder zwischen Mais und Insekten entdecken? In Auseinandersetzung mit diesen Fragen, wird das Bilderbuch zum »Kulturellen Werkzeug« (Spore Initiative). Denn nehmen wir dieses buchstäblich in die Hand, beginnen mit diesem zu arbeiten und zu denken, können sich ungeahnte und lebenswichtige Erfahrungsräume öffnen.

Ein Gespräch mit Mariela Nagle

Kirsten Winderlich
»Caminar el tiempo« ist ein Bilderbuch, es ist aber auch ein Werkzeug. Kannst Du bitte beschreiben, was ein »Kulturelles Werkzeug« im Verständnis der Spore Initiative ausmacht?
Mariela Nagle
Hier muss ich im Namen von Spore antworten. »Spore unterstützt die Arbeit von Personen und Gemeinschaften, deren Lebensweisen in die Natur eingebunden sind und die sich für biokulturellen Vielfalt einsetzen. In Zusammenarbeit mit ihnen entstehen so vielfältige kulturelle Formate und Werkzeuge, wie illustrierte Bücher, Animationsfilme, Kartenspiele oder Hörspielserien. Die Inhalte dieser Werkzeuge basieren auf dem spezifischen Wissen der Partner*innen und folgen ihren Visionen und ihren Werten. In den kollektiven Entstehungsprozessen werden unterschiedlichste Methoden miteinander verwoben, wie z. B. Austausch durch Gruppentreffen aus unterschiedlichen Communities, Kunst- oder Erzählen-Workshops mit Familien, u. A., mit dem Ziel, dieses Wissen zu erhalten und es für verschiedene Generationen und Gemeinschaften an unterschiedlichen Orten zugänglich zu machen.«
KW
Die Initiierung sowie Begleitung des Entwicklungsprozesses für »Caminar el tiempo« mit einer Vielfalt an Akteur*innen ist ausgesprochen anspruchsvoll und gleichzeitig vorbildlich. Magst Du an dieser Stelle etwa zu dem Prozess und seinen Herausforderungen erzählen? 
MN
»Caminar el tiempo« ist das Ergebnis eines langen dialogischen Prozesses mit unserem Partnerinnen in Yucatán: Die agrarökologische Schule U Yits Ka‘an; bestehend aus Bäuerinnen und Menschen, die sich der Sorge um das Land verschrieben haben, gelerntes und gelebtes Wissen über Xook K‘iin weitergeben. 
Spore erleichterte den Prozess der Erstellung des Kulturwerkzeugs mit der Unterstützung und dem Fachwissen der Grafikdesignerin und Verlegerin Mónica Bergna, Illustrationen von Mariana Alcántara und Textedition von Fanuel Hanán Díaz. 
Die Publikation besteht aus einem Satz Karten mit Illustrationen und Gedichten, die aus dem Dialog unterschiedlicher Akteur*innen aus Yucatán und anderen Regionen entstanden sind, sowie Informationen über Xook K‘iin und Natursignale wie Wolken, Ameisen, Vögel usw.. 
Dazu gibt es auch ein didaktisches Handbuch mit Vorschlägen für die pädagogische Nutzung der Karten. Die Vermittlerinnen Abrahan Collí Tun und Julián Dzul Nah werden im Laufe des Jahres 2024 in verschiedenen Gemeinschaften in Yucatán, Quintana Roo, Campeche und Chiapas Workshops veranstalten, um die Materialien zu verteilen und Multiplikatorinnen zu ermöglichen, sie als pädagogisches Mittel zu nutzen. 
Soweit über die Entstehung des Buches. Seit März 2024 ist allerdings die Publikation einen neuen Weg gegangen: es hat unterschiedliche Gruppen von Menschen, von Yucatán (Mexiko) bis Santa Marta (Kolumbien) über Mexico City und sogar Berlin erreicht. Durch Workshops und gemeinsames Spielen von Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, haben diese Karten sämtliche Teilnehmer*innen motivieren können, die Natur zu spüren, hören, anfassen und auch zu reflektieren, wie wir selbst die Natur empfinden. Bei jedem Workshop kommen neue Ideen, die Karten, aber auch die Natur selbst, wahrzunehmen.
KW
Mich persönlich beeindrucken hinsichtlich der ›Anlage‹ des Buches, das als ›Werkzeug‹ wirkt, die Momente von Treffpunkt, Spiel und Austausch. Wie wirken diese Momente für Dich auf eine Bildung zwischen ›Natur‹ und Kunst?
MN
Ich finde, die Bilder von »Caminar el tiempo«, dienen als ästhetische Anregung, als Impuls, die Natur gleich »live« zu spüren. Jedes Bild entstand nach mehreren Gesprächen mit der Illustratorin Mariana Alcántara. Man merkt bei jedem Bild die tiefe Beziehung zur Natur, die wir als Team durch den Austausch entwickelt haben und wie gut Mariana diese umsetzen konnte.
Dadurch, dass die Publikation kein Buchformat hat, sondern sich als Karten »entfaltet«, lässt es die Teilnehmer*innen frei und intuitiv entscheiden, was sie als Erstes beobachten möchten und wie sie damit umgehen wollen. Selbst wenn die Natursignale für die Wettervorhersage aus Yucatán kommen und regional sind, wirkt die Ästhetik des Buches universell und verbindet uns gleich durch Farben und Tönen mit unserer eigenen Landschaft: Wolken, Vögel, Pflanzen können sehr schnell assoziiert werden. 
KW
Inwieweit fördert »Caminar el tiempo« eine Bildung für die Entwicklung eines ökologischen Bewusstseins?
MN
Die Idee des Buches war, ein Werk gemeinsam zu kreieren: der Inhalt des Buches besteht aus dem Wissen von vielen Menschen, die noch heute, die Natur vor Ort schützen. Ohne kollektive Arbeit ist ein ökologisches Bewusstsein undenkbar, denn ökologisch zu denken, ist meiner Meinung nach gleichzeitig gesellschaftlich zu denken und nicht als Individuum. Für uns hat das Buch eine doppelte Botschaft: der Inhalt, sowohl Text als auch Bild, sollte anregen, mehr über unser Verhalten im Einklang mit der Natur nachzudenken. Gleichzeitig sollte das »Machen« vom Buch als Anregung dienen, mehr kollektiv zu denken und zu kreieren.
KW
Magst Du teilen, welche Situationen im Prozess der Entwicklung des Buches und »Kulturellen Werkzeugs« für Dich besondere Erfahrungen, die Überraschendes und Unerwartetes inkludieren, angestoßen haben?
MN
Die größte Herausforderung im Entstehungsprozess von »Caminar el Tiempo« bestand zweifellos darin, einen Konsens zwischen allen Akteur*innen zu finden, und dabei das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, ein Buch zu kreieren, das eine ganze Community für die Weitergabe ihres Wissens und Einstellung zur Natur braucht. Das Buch sollte treu zur Community von Yucatán bleiben. 
Was mich überraschte, war, dass am Ende jede*r von uns in der Lage war, sein Ego und eigene Bedürfnisse beiseitezuschieben und an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Bei jedem Treffen mit der Designerin, mit der Illustratorin, mit den Mediatoren kamen neue Informationen über die Xook' K'iin ans Licht. Bei jedem Zoom-Meeting mussten neue Änderungen vereinbart werden. Ich muss die Sensibilität der Illustratorin, Mariana Alcántara, erwähnen, die den erzählten Geschichten zuhörte und sie ins Visuelle übersetzte. 
Die Arbeit mit »Caminar el Tiempo« hat mir neue Wege des Kreierens gezeigt. Ich habe gelernt, dass, bevor wir überhaupt ein Buch in die Welt bringen wollen, wir vorher genau überlegen sollten, weshalb dieses Buch entstehen soll. Und dass es für mich nun viel sinnvoller ist, ein pädagogisches Tool kollektiv zu gestalten. 
KW
Ich danke Dir für das Gespräch und wünsche »Caminar el tiempo« eine gute Reise durch die Schulen!

Auf welche Weise kann die künstlerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen weitergeführt werden?

Das Buchobjekt und -projekt »Caminar el tiempo« lädt ein ›den Faden aufzunehmen‹, sich einen Ort zu suchen, an dem sich Natur ereignet und die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren für all das, was im Alltag vielleicht übersehen und entsprechend übergangen wird. Wohl wissend, dass wir über die Fähigkeit »xook k’iin« nicht verfügen können, sollen folgende Überlegungen anregen, von der Haltung der Mayas, die sich in »Caminar el tiempo« spiegelt, zu lernen. Konkret bedeutet dieses, dass wir einen Ort aufsuchen, der in unserem städtischen Lebensumfeld entsprechend »Naturkultur« (Haraway 2003) inszeniert.

Kunstdidaktische Impulse

Im Rahmen der Bilderbuchwerkstatt der grund_schule der künste haben Elisa Bauer, Helen Naujoks und Kirsten Winderlich kunstdidaktische Impulse erprobt.

*Das Konzept und die Produktion dieses Materials sind das Ergebnis eines Dialogs mit der Spore Initiative, der Schule für ökologische Landwirtschaft „U Yits Ka'an", Julián Dzul, Abrahan Collí, Bauern und Landverteidigern aus Yucatán und anderen Regionen in Mexico. Illustrationen von Mariana Alcántara. 

Mariela Nagle ist die Gründerin von Mundo Azul, einer Buchhandlung in Berlin, die sich auf internationale Kinderliteratur spezialisiert hat und arbeitet als Kuratorin für alternative Bildungs- und Verlagsprojekte mit dem Schwerpunkt Inklusion und Interkulturalität. Bei Spore ist sie für die Bibliothek verantwortlich und koordiniert Programme im Kontext von generationenübergreifenden Bildungsangeboten und Veröffentlichungen.

Buchtipp

Wulf, Andrea (2015): The Invention of Nature. The Adventures of Alexander von Humboldt – The lost Hero of Science. London: John Murray.

Literatur

Haraway, Donna (2003): The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago: Prickly Paradigm Press.


Zitation

Winderlich, Kirsten (2024). Von anderem Wissen – zum seismographischen Potenzial zwischen Naturerleben und Gemeinschaft. KLIMA. KUNST. BILDUNG., herausgegeben von Kirsten Winderlich und Stefanie Johns. [letzter Zugriff: 21.11.2024]; https://klimakunstbildung.com/artikel/von-anderem-wissen-zum-seismographischen-potenzial-zwischen-naturerleben-und-gemeinschaft


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